Vernissage Einführung von Verena Stettler

Rezension zu "Es tanzt der Stein"

von Verena Stettler

Liebe Anwesende

Wir feiern heute das Erscheinen des neuen Lyrikbands von Brigitte Fuchs: „Es tanzt der Stein“. Neu? Was ist denn eigentlich neu daran? Wer das Werk der Autorin ein bisschen kennt, wird in diesen Gedichten auf vieles stossen, das vertraut anmutet, sei es in der Thematik, sei es in der Wortwahl, sei es im Tonfall. Brigitte Fuchs ist zum Beispiel fasziniert von der Leichtigkeit, vom Tänzerischen, ich erinnere an die Titel ihrer letzten drei Bücher bei uns: „So lange ihr Knie wippt“,„Handbuch des Fliegens“ und „Salto Wortale“, diesmal „tanzt der Stein“. Es gibt auch Schlüsselwörter bei ihr, die immer wieder auftauchen: der Himmel, die Wolken zum Beispiel, womit sie offene Räume entwerfen kann. Dann ihre Beschäftigung mit der Welt der Pflanzen, die Liebe zum Garten: auch das ein Motiv, das sich von Band zu Band durchzieht. Und wer würde nicht in einer Formulierung wie „Was weiss der Stein“ ein Echo von Sätzen wie „Was weiss ich“ oder „Was wisst ihr schon“ in früheren Gedichten heraushören, diese hingehauchte Skepsis, die einen Grundton ihrer Lyrik ausmacht.

Also alles wie gehabt? Eigentlich überflüssig, ein neues Buch zu schreiben? Natürlich nicht. Eher so: Brigitte Fuchs bleibt sich und ihren Themen treu – wir werden in unseren Erwartungen keineswegs enttäuscht –, aber sie verschiebt die Gewichte etwas, ein anderer Aspekt rückt in den Vordergrund. Es ist dies ganz offensichtlich vom Titel her „der Stein“, der Kontrapunkt zur beschworenen Leichtigkeit, dem Motto der früheren Bände.

Steine kommen bisher tatsächlich kaum in Brigitte Fuchs’ Welt vor – was bei ihrer Vorliebe für das Luftige nicht überrascht. Es lohnt sich daher, genauer hinzuschauen, welchen Stellenwert dieses Motiv im vorliegenden Gedichtband bekommt.

An erster Stelle erwähne ich etwas Selbstverständliches: Der Stein verkörpert Schwere, die unbewegliche Materie, auch das Hemmende und Begrenzende: Er kann für einen Leichtfuss der „Klotz am Bein“ werden, er kann hart und drückend anstelle des Herzens „im Nistkasten der Brust“ hocken, man kann damit „Mauern errichten“, er ist „Last“ (das sind alles Zitate aus dem Gedichtband).

Andererseits bildet er mit seiner Masse ein Gegengewicht zur Flüchtigkeit der Erscheinungen. Er ist greifbar, ein fester Punkt in allem Veränderlichen, Fliessenden: „Der Stein in der Faust“ wird z. B.„ein Versprechen“, Brigitte Fuchs findet den schönen Ausdruck „Wortsteine aufheben“ für unser Bemühen, die Wirklichkeit mit Sprache zu bändigen, und in einem andern Gedicht „baut (sie) sich eine Furt aus Kieseln in den Wortfluss“. Ein Stein kann absinken und vom Grunde des Wassers oder wie hier:„der Träume“ aus wirken, sei es leicht melancholisch als Zeichen der Erinnerung, sei es positiv als „Glücksstein“, der heimlich „zwischen Geschiebe, Sand und Strömung“ ruht. (Auch das sind Zitate.)

Die Beständigkeit des Steins vermittelt uns Sicherheit – beides natürlich nur vermeintlich: Weder erhalten wir die Gewissheiten, die wir wünschen, noch sind Steine dauerhaft – die Naturwissenschaften schildern die Veränderbarkeit, Verwandlungsfähigkeit des Gesteins, eine Dynamik, die sich einfach über grössere Zeiträume hinzieht, ein Stichwort wäre dazu z. B. die Erosion. Brigitte Fuchs greift auch dieses Bild auf, setzt den Stein den Elementen aus, verbindet ihn mit dem Wasser, lässt ihn zu Tal und in Richtung Meer rollen, ja sogar zu Staub zermahlen werden.

Mit dieser Verwandlung, die Bewegung ins scheinbar Unbewegte bringt, sind wir wieder beim Grundthema angelangt: dem tanzenden Stein. Wie kommt so was Schweres zu Schwung und Rhythmus? Sprachlich ist dies eigentlich ein Paradox. Nicht so in der Wirklichkeit – wir wissen: Es braucht Einwirkung von aussen, eine Kraft, die der Gravitation entgegenwirkt und beim Abheben hilft. Der Titel bezieht sich denn auch auf ein sehr konkretes Phänomen: das Schiefern, wobei wir Kiesel mit Schwung über die Wasserfläche hüpfen lassen. Dieses Bild einer einfachen, alltäglichen Erfahrung lotet nun die Autorin lyrisch mit allen Implikationen aus.

Als Motto stellt Brigitte Fuchs dem Gedichtband ein Zitat der österreichischen Schriftstellerin Brigitte Schwaiger voran: Und wenn der Dichter / nur ist wie ein Stein, der da tanzt / auf dem Wasser. / Den einer so geworfen hat, dass der Stein nicht gleich untergeht. Hier wird das Schiefern zum Symbol der eigenen Existenz. Mit der Vorstellung, als Kiesel übers Wasser geworfen zu werden, klingen natürlich existenzphilosophische Töne an, eine Heidegger’sche Geworfenheit ins Dasein, ein ungefragtes Vorhandensein, dem der Dichter hier mit seiner Kunst unpathetisch eine gewisse Leichtigkeit und Anmut abzuringen hofft, eine Gnadenfrist, bevor er sich der umfassenden Wirklichkeit des Todes stellen muss. Mit diesem starken Zitat einer Frau, die sich in ihrem autobiographisch geprägten Schreiben mit menschlichen Höllenfahrten wie Depressionen und Aufenthalt in der Psychiatrie herumgeschlagen hat und schliesslich Selbstmord verübte, mit diesem Zitat verweist Brigitte Fuchs auf den ernsten Hintergrund ihrer vordergründig oft verspielten und heiteren Lyrik, lenkt gleichsam die Aufmerksamkeit auf die Schatten im hellen Bild. Analog dazu nimmt sie in verschiedenen Gedichten Themen wie Tod und Vergänglichkeit auf.

Die Spannung zwischen schillernder Oberfläche und deren Störung durch Ironiesignale und abgründigen Hintersinn ist seit jeher eines der konstituierenden Elemente von Brigitte Fuchs’ Werk. In früheren Gedichten hat sie sich intensiv mit dem Schaffen von Wirklichkeit durchs Schreiben auseinandergesetzt, mit dem Abbild, das sich ja eben genau nicht mit dem dargestellten Objekt deckt, mit Masken und Posen im menschlichen Verhalten und mit unserer Fähigkeit zur Vorspiegelung und Illusion. Augenfällig führen in diesem Buch hier Titel wie „Darstellende Truppe“, „Schwanensee“ oder„ Ausschnitte“ diese Thematik weiter, im Wesentlichen aber sind wir praktisch in jedem Gedicht mit einem subtilen Hin- und Hergleiten zwischen Wortkörper und Bedeutung(en) konfrontiert, mit einem virtuosen, eleganten Surfen auf einer spiegelnden Fläche – im ausdrücklichen Wissen drum, dass diese nicht wirklich trägt. In diesem Sinn kann das Bild vom tanzenden Stein auch als das Wesen der Dichtung verstanden werden.

Ich habe nun mehrmals von Oberfläche gesprochen und die Bühne von Brigitte Fuchs’ Lyrik dort lokalisiert. Wie gesagt, heisst das nun keineswegs, dass sie nicht tiefgründig wäre. Nur ist sich die Autorin als Sprachkünstlerin ihres Mediums in jedem Moment bewusst und setzt sich damit auseinander. Wir sind uns aber von alters her gewohnt zwischen Sein und (schönem) Schein, zwischen verborgener Wahrheit und vordergründiger Lüge, zwischen Eigentlichem und Uneigentlichem zu unterscheiden und selbstverständlich das Äusserliche abzuwerten. Einen Gipfelpunkt hat diese Tradition in den Vanitas-Motiven der Barockmalerei gefunden. Diese hat ja gemäss dem Wahrspruch „Alles ist eitel“ (im Sinn von nichtig) zu Darstellungen von üppigster Weltlichkeit mahnend Symbole des Todes und der Vergänglichkeit gesellt, womit sie einerseits zur Erbauung beitragen wollte, andererseits Abbitte dafür leistete, dass sie sich auf der Ebene der Kunst, der bewussten Täuschung befindet.

Brigitte Fuchs hat natürlich ein anderes Verhältnis zur Kunst, hinter ihrer Ambivalenz steckt kein Sündenfall. Trotzdem tauchen bei ihr an Schlüsselstellen klassische Vanitas-Symbole auf: Sie ist fasziniert von Spiegelungen und Echos; Kosmetik, Schmuck und Attitüden erfahren liebevolle Schilderungen und halten als Metaphern her; die Pflanzenwelt entfaltet ihre sinnlich verschwenderische, aber vergängliche Pracht – ganz zu schweigen vom Spielcharakter des Lebens, der immer wieder zum Thema wird. Und ähnlich wie ein Barockmaler paradox im Dargestellten auf das Abwesende hinweist, versteht es die Autorin, in der Beschreibung des Vorhandenen eine fundamentale offene Stelle erahnen zu lassen.

Ähnlich also, aber doch völlig anders. Während damals die Nichtigkeit des Irdischen moralisierend im Hinblick auf eine Ewigkeit hervorgehoben wurde, bleibt in Brigitte Fuchs’ Dichtung ungesagt, welche Transzendenz sich hinter dem Spiel der Erscheinungen verbergen könnte: Die Lücke bleibt offen. Es gibt nichts Fassbares, keine wie auch immer geartete Wahrheit dahinter, sondern Zweifel und Fragezeichen, allerhöchstens Hoffnungen. Dafür aber – und das macht den Reiz ihrer Poesie aus – ein lustvolles Sich-Einlassen auf die Vielfalt der Phänomene und die Kunst, diesen sprachliche Gestalt zu geben, ohne deren Vorläufigkeit und Vergänglichkeit zu leugnen, ein Humor und eine Heiterkeit mit ernstem Hintergrund, die sich gerade aus dem Wissen um die Illusionen und die offensichtlichen Unzulänglichkeiten der menschlichen Konzepte nähren. Sie stellt sie ins Bodenlose – wie den Titel gebenden tanzenden Stein.

Bezeichnenderweise endet der neue Gedichtband mit einem Haiku, einer Gedichtform, die sich einerseits durch ihre Knappheit auszeichnet, da darf kein Wort zu viel sein und jedes muss haargenau sitzen, andererseits verbindet es zwingend Konkretheit mit einer grosse Aura von Deutungen – traditionell wird ja ein Ereignis in der Natur, eine Stimmung beschrieben, aber die Natur wird symbolisch genommen und das Publikum muss sich seine eigenen Gedanken dazu machen. Welchen Titel trägt dieser Schlusspunkt bei Brigitte Fuchs? Das Buch endet viel sagend mit „Nichts“. Ich lese es vor:

Nichts mehr zu sehen / vom Stein, der in den Teich fiel. / Doch er fiel, er fiel.

Ich möchte jetzt nicht zur Interpretation dieses Gedichts ansetzen, mit dem sich der Kreis vollendet, der mit dem Steinwurf übers Wasser begonnen hat.

Dafür weise ich Sie auf das Gedicht hin, das Ihnen möglicherweise als Erstes ins Auge sticht, ebenfalls ein Haiku: Es befindet sich auf der Umschlagrückseite. Wenn Sie das Buch bereits gekauft haben, sehen Sie es vor sich. (Ich hoffe, Sie haben den Wink mit dem Zaunpfahl bemerkt.) Das Gedicht heisst „Am Rand“ und geht so:

Am Rand des Weihers / sitzt seit Stunden der Dichter – / und schreibt nicht ein Wort

Ein ambivalenter Aufhänger für einen Gedichtband – und nicht ohne Humor. Hierzu möchte ich zum Schluss einige Deutungen wagen, einerseits um zu skizzieren, was sich in diesen 17 Silben an Ungesagtem verstecken könnte, andererseits passt das Thema zum heutigen Anlass, an dem eine Autorin mit ihrer Arbeit im Zentrum steht.

Ich frage mich nämlich, was mit diesem Dichter los ist, dass er so pflicht- oder vielleicht doch eher selbstvergessen am Teich sitzt. Ist das Ganze nur Pose, ist er ein Hochstapler, ein Möchtegernpoet, der nun entlarvt wird? Oder hat er eher Schreibstau, kämpft er innerlich vergeblich um das treffende Wort? Drückt dann die beschriebene Situation ein Ungenügen, eine vielleicht grundsätzliche Kapitulation vor der Wirklichkeit aus und lässt uns deshalb amüsiert über den Kontrast zwischen Anspruch und Realisierung lächeln? Der Dichter könnte aber auch im Gegenteil so tief in die Betrachtung der Natur versunken sein, dass er alles rundherum vergisst und erst im Nachhinein das Gesehene in Worte fasst – als inneres Bild, als Haiku gar? Und was ist der Gegenstand seines Staunens? Etwa eine sommerliche Szenerie wie jene des Gedichts in diesem Buch auf Seite 38? Oder betrachtet er die glatte Wasseroberfläche, die einen versunkenen Stein verbirgt – wie im Haiku, das den Band abschliesst? Beides wären Spiegelungen, Referenzen der Dichterin auf ihr Werk. Die Autorin könnte aber auch implizit auf das berühmteste aller Haikus verweisen, das Froschgedicht des japanischen Dichters Matsuo Basho, der im 17. Jahrhundert lebte und als erster grosser Haiku-Dichter gilt. Vielleicht kennen Sie es, es lautet ungefähr so:

Der alte Weiher. / Ein Frosch springt hinein. / Oh, das Geräusch des Wassers.

Diese letzte Deutung unseres Dichter-Haikus würde sich dann selbstreferentiell auf das Haiku als Gedichtform beziehen, auf sein Entstehen aus der Naturbetrachtung, und der belächelte Dichter wäre niemand anders als eine Haiku-Grösse aus vergangenen Zeiten, klassisch vor dem Teich sitzend, beobachtend, lauschend. Sein Schweigen wäre demnach nicht Scheitern, sondern Weisheit und die Basis für höchste Kunst.

Eine schillernde Sache also, die jede Menge Fragen zum Wesen der Poesie aufwirft. Ich lasse sie offen, könnte sie gar nicht beantworten, möchte aber nun meine eigenen Worte von der Weisheit des Schweigens beherzigen und nach dieser langen Einführung der Autorin das Wort geben.