Laudatio anlässlich der Preisverleihung vom 7. März 2010 (bei "Luzern bucht")
von Dr. Ina Brueckel, ZHB Luzern
Anagramm-Wettbewerb Verlag Martin Wallimann / Haus am See, 2010
Mit vielen Spezialitäten, etlichen Lese- und Denkwürdigkeiten hat sich das Luzerner Literaturfestival längst einen unübersehbaren Platz im Literaturbetrieb der Stadt gesichert. Folgerichtig präsentiert denn auch das Finale eine Besonderheit. Die Rede ist von einer Orchidee der literarischen Flora, von einer Sonderanfertigung für Literaturliebhaber, die Rede ist von Anagrammen, und vor allem, von der Preisträgerin oder dem Preisträger des Anagramm-Wettbewerbs 2010.
Was aber verbirgt sich hinter jenem abstrakten Begriff, der wohl nur dem philologischen Werkzeugkoffer entstammen kann? Eine literarische Randerscheinung? Gewiss. Ein kabbalistisches Deutungsverfahren, ein Schlüssel zu alttestamentarischer Weisheit? Auch das. Eine Methode zur Codierung geheimer Botschaften? Bestimmt. Von Dichtern als Pseudonym geschätzt und genutzt ... all das und mehr. Vielfältig wie die Gestalt sind auch die Funktionen anagrammatischer Verfahren, will sagen: der Buchstabenumstellung. Denn in Anagrammen werden die in einem oder mehreren Worten vorhanden Buchstaben anders gruppiert: zu einem neuen Wort, zu neuen Worten, neuen Zeilen, neuen Texten gar. Das klingt nun immer noch sehr technisch, sehr spröde und gemessen an den meist lustvollen, oft poetischen Ergebnissen anagrammatischer Umschreibungen extrem unattraktiv. Tröstlich, dass es sich dabei lediglich um die Erklärung handelt und nicht um die Sache selbst.
Eine anspruchsvolle Aufgabe also, die der Verlag Martin Wallimann und die Stiftung Haus am SEE in Form eines ‚Dichterstreits’ für das Jahr 2010 ausgeschrieben hatten. 14 Autorinnen und Autoren aus Deutschland, aus Österreich und der Schweiz beantworteten die Herausforderung mit insgesamt 42, fristgerecht unter Pseudonym eingereichten Beiträgen. Auch das muss hier erwähnt werden, damit die literarische Um-Ordnung ihre Ordnung hat.
Eingereicht wurden 14 x 3 Anagramme, davon je 2 freie Beiträge und 1 Beitrag nach einer vorgegebenen Zeile. Bis zum 3. Jhdt. vor Christus lässt sich die Tradition des Anagramms zurückverfolgen, das im deutschen Sprachraum eine Hochzeit im Barock erlebte und in den folgenden Epochen der Literaturgeschichte manche, wenngleich unauffälligere Renaissance. Wer sich näher mit den Traditionen des Anagramms beschäftigt, ist zunächst überrascht, wie viele prominente Schriftsteller sich dieses Verfahrens bedienten; die Namen grosser Autorinnen und Autoren wie etwa Martin Opitz oder Unica Zürn illuminieren die Vergangenheit des Anagramms. In der zitierten Genealogie stehen also auch die 14 Autorinnen und Autoren des Wettbewerbs, die sich indessen mit ihren Arbeiten deutlich im 21. Jahrhundert verorten und damit die Farbigkeit, den anhaltenden Reiz und - nicht zuletzt- die Lebendigkeit des Genres dokumentieren. Das Anagramm mag ein literarischer Sonderfall sein, ein museales Exponat ist es dem Himmel-sei-Dank nicht.
Mit einer anspruchsvollen Aufgabe sah sich auch die Jury (Matthias Burki, Joseph Birrer, Ina Brueckel) konfrontiert. Schliesslich galt es die insgesamt 42 Anagramme, davon keines länger als 25 Zeilen, auf ‚Herz und Nieren’ oder auf Inhalt und Form zu prüfen, zu vergleichen und zu bewerten. Viele Autorinnen und Autoren überzeugten mit dem einen oder anderen Beitrag der jeweils eingereichten Trias. Eine literarische ‚Dreifaltigkeit‘ indessen war im relativ rasch erkennbaren breiten Mittelfeld nicht auszumachen. Diese ‚Dreifaltigkeit‘ hingegen charakterisiert eine Einsendung, die durch Geschlossenheit, Originalität und Witz die Juroren zu einer einstimmigen Rangierung veranlassten.
Ob die eingereichten Arbeiten „Zwischen halber Nacht und ganzem Tag“ entstanden sind, wissen wir nicht. Gut möglich, dass sich in den Lieblingsstunden der Elementargeister auch der Dichtergeist besonders leicht und spielerisch entfaltet. Die Auftragsarbeit jedenfalls hatte die lyrische Zeile des Verlegers Martin Wallimann, „Zwischen halber Nacht und ganzem Tag“, anagrammatisch zu modifizieren. Das Ergebnis dokumentiert ebenso wie die beiden bislang unveröffentlichten freien Arbeiten den souveränen Umgang des Autors mit der Materie und damit die literarische Kraft, die kluge Anagramme zu entfalten vermögen. Hier wird das lustvolle Hantieren mit Signifikanten zum Motor des anagrammatischen Bild- und Sprachgenerators. In mal subtilen, mal rustikalen Vexierspielen entstehen Bilder über Bilder, Sinn tut sich auf und vergeht schon in der nächsten Zeile in neuen Konstellationen. Zweifellos erzeugen diese Anagramme einen auszeichnungswürdigen poetischen Mehrwert .
Gekonnt widersteht der Autor einer oft gefährlich nahe liegenden Versuchung, Aussage und Bedeutung des Anagramms in der Beliebigkeit frei flottierender Wortmonaden aufs Spiel zu setzen. Stattdessen überzeugen die drei eingereichten Beiträge spontan durch drei Faktoren: ihre Komposition, die durchgearbeitete Form und die eloquent vermittelte Plastizität der Bilder. So lösen die vorliegenden Anagramme ein, was wir von Literatur im Allgemeinen erhoffen, dass sie uns im korrespondierenden Verhältnis von Inhalt und Form etwas zu sagen hat. Dass, was wir hören oder lesen, uns, die Lesenden, etwas angeht.
Verblüfft beobachten wir, wie sich die Vorgabe „Zwischen halber Nacht und ganzem Tag“ zum Animateur einer 8 Zeilen umfassenden Mikroerzählung über den Komponisten Bach und seine inspirierenden Engel wandelt. Ob dabei die von Bach in Musik gesetzte Anrufung „Bleibt ihr Engel, bleibt bei mir“ (Arie BWV 19,5 für Tenor) eine Rolle gespielt hat, wird womöglich eines der Geheimnisse des Anagrammisten bleiben. Im abgemessenen Raum weniger Zeilen tut sich freilich ein geschickt ausgeleuchtetes Szenario auf. Und nicht von ungefähr, will man spätestens bei der zweiten Lektüre meinen, sind es eben Engel, die dem Meister spiritueller Musik zur Seite gestellt werden. Wer aber hat sich Bach je in solcher kindlicher Heiterkeit gedacht? Die architektonische Strenge seiner Kompositionen wird in dieser musikalisch klangvollen Prosaminiatur konterkariert. Und so hören wir die genannte Kantate in Zukunft vielleicht anders.
Anders lesen werden wir hinkünftig womöglich auch die Werke eines weiteren kanonisierten Künstlers, der „Hochwertiges“ gab, den Irrwegen „Schoenheit“, und beflügelt vom Wein bisweilen auch „Grobheiten“ verteilte. Ironisch präsentiert das fünfstrophige Gedicht den inneren Dialog eines deutschen Dichterfürsten, der rastlos getrieben von Schreibimpetus zu Geltungsimpetus, von Leistungsimperativ zu Bedeutungsimperativ jagt. Auch hier spiegelt die stark dynamisierte Struktur, -jede Strophe vermittelt in drei Zeilen zu je drei Worten Tempo und Rhythmus des Gedichts - den angedeuteten Inhalt. Nach immer neuen Variationen vermag auch das dramaturgisch geschickt vorbereitete Finale nochmals mit einem tuschartigen Verdikt zu überraschen: „ Schreib weniger, Goethe!“.
Gleichfalls erstaunlich kommt auch der dritte Beitrag daher. Noch einmal wendet sich der Preisträger der Literatur zu, diesmal jedoch mit Blick auf deren Aufbewahrung in „zwei Buechrerregalen“, die Platz bieten für ein grosses literarisches Spektrum. Denn neben „Rachgier-Sudeleinen“ gibt es „unbewiesene redliche Grazien“ zu entdecken. Hinkünftig, so möchte man jeder Bibliothek und jeder Buchhandlung empfehlen, sollte das kleine Traktat über die „Buecherregale“ Wegweiser zu neuen Möblierungen, vielleicht auch zu neuen Lesarten werden. Welcher Leser, welche Leserin wollte sich nicht in dieser wundersamen Letternwelt verlieren?
Manches ist damit gesagt, vieles noch nicht und das zu guter Letzt Wichtigste wird sich nur der hinter dem Pseudonym SAFRAN verborgenen Autorin erschlossen haben. Natürlich hätte die Jury sich einen formvollendeten Spass daraus machen sollen, den Namen der Preisträgerin anagrammatisch bekannt zu geben. Ein andermal vielleicht, wenn ein solches Gremium „zwischen halber Nacht und ganzem Tag“ den „geistigen Becher“ leert. Daher nun also eher prosaisch als poetisch, nichtsdestotrotz sehr herzlich: Wir gratulieren der Schriftstellerin Brigitte Fuchs aus Teufenthal zum Preis des Anagramm Wettbewerbs 2010.
Ina Brueckel, 7.03.2010