AZ-Interview zum Welttag der Poesie
von Peter Weingartner
„Ein gutes Gedicht ist wie ein Jojo-Spiel“
21.03.2009 Heute ist Welttag der Poesie. Die AZ sprach mit der Lyrikerin Brigitte Fuchs aus Teufenthal über die Arbeit mit der Sprache.
Peter Weingartner:
Brigtte Fuchs, welcher Teufel muss einen reiten, damit man beginnt, Gedichte zu schreiben?
Brigitte Fuchs: Darf es auch ein Engel sein? Im Ernst: Es ist die Freude an der Sprache, am Gestalten mit Worten. Mich fasziniert, wie mit den wenigen Zeichen, die wir zur Verfügung haben, eine unendliche Vielfalt an Texten entstehen kann. Man könnte denken, es sei bereits alles gesagt, aber das ist nicht so. Noch immer ist es möglich, etwas neu und unverbraucht darzustellen. Eines meiner vielen Lieblingsbücher heisst übrigens „Kleine Teufel“, ein Gedichtband des Pianisten und Lyrikers Alfred Brendel.
Was die Meinung bestätigen würde, dass es vorab Lyriker sind, die Lyrik lesen.
Fuchs: Da ist sicher etwas dran. Böse Zungen behaupten gar, es gebe mehr Leute, die schreiben als solche, die lesen. Es gibt auch unter den Schreibenden welche, die es nicht für nötig erachten, andere Werke zu lesen, was ich nicht verstehe. Anderseits kenne ich auch nicht schreibende Leserinnen und Leser, die Gedichte lieben und sogar auswendig lernen.
Können Sie sich an Ihr erstes Gedicht, das Sie geschrieben haben, erinnern?
Fuchs: Nein, nicht so konkret. Ich weiss, dass ich in der Seminarzeit am Bahnhof oder im Zug geschrieben habe, wohl lyrische Versuche zu Themen wie Warten, Reisen, Ankommen oder Wegfahren. Aufbewahrt habe ich sie allerdings nicht. Später entstanden Liebesgedichte für meinen Mann. Richtig ernsthaft zu schreiben begann ich mit gut dreissig Jahren, als Familienfrau mit drei kleinen Kindern.
Wie muss man sich das vorstellen? Setzen Sie sich hin und sagen: Jetzt schreibe ich ein Gedicht?
Fuchs: Man kann das versuchen, doch die Chancen dafür stehen schlecht. Erzwingen lässt sich nämlich gar nichts. Es gibt Zeiten, wo es sprudelt, aber auch Durststrecken, wo man denkt: Ich kann nie mehr etwas schreiben. Viele Autoren schreiben dennoch täglich, selbst wenn es sich nur um „Fingerübungen“ handelt.
Und Sie?
Fuchs: Auch ich mache das; dabei entstehen Wendungen, Sätze, kurze Texte oder Gedichtanfänge. Inspirieren kann alles: Lektüre, Fotos, Gespräche, Werbung, die Natur, frisch gefallener Schnee etwa oder ein Vogel, der zum Vogelhäuschen fliegt. Dabei werden diese Eindrücke selten beim Erleben schon verarbeitet. Im richtigen Moment tauchen die Gedanken und Bilder wieder auf. Und dann beginnt die Arbeit. Bei mir kommen gute Ideen oft im Halbschlaf, sei es abends oder morgens. Deshalb liegt immer Schreibzeug neben meinem Bett. Aber eigentlich bin ich auch tagsüber dauernd auf Empfang für Ideen, Wendungen, Möglichkeiten, wach für Wörter. Aufmerksamkeit und Liebe zur Sprache sind Voraussetzungen für das Schreiben.
Wie geht die Arbeit am Text vor sich?
Fuchs: Ich vergleiche die Arbeit an einem Text gerne mit jener an einer Skulptur. Ähnlich wie ein Lehmklumpen oder ein unbehauener Stein sind Wörter die Substanz, aus der ein Werk geschaffen werden kann. Für mich heisst das: Arbeit an der Aussage, am Klang, am Rhythmus, an der Form. Wie bei einer Plastik oder einem Gemälde geht es nicht darum, etwas fotorealistisch darzustellen, sondern mit der Sprache so zu verfahren, dass das Wesentliche herausgearbeitet wird, ohne zu wenig oder zu viel zu sagen. Gedichte sollen ein Geheimnis behalten, eine gewisse Magie. Ein gutes Gedicht ist wie ein Jojo-Spiel. Ist beim ersten Lesen bereits alles erfasst, ist das Gedicht schlecht. Ein gutes Gedicht kommt wie die Jojo-Scheibe immer wieder hoch, mit neuer Energie, neuem Drive. Es muss lebendig bleiben, will mehrfach gelesen werden können, ohne schal und langweilig zu werden.
Wann ist ein Gedicht fertig?
Fuchs: Wenn ich kein Bedürfnis mehr verspüre, es zu verändern, wenn ich beim Durchlesen ein gutes Gefühl habe: Der Text sitzt! Würfe, Texte also, bei denen das bei der ersten Niederschrift schon geschieht, sind die Ausnahme. Bis ein Gedicht fertig ist, kann es Monate dauern: weglegen, wieder zur Hand nehmen. Meistens beginne ich mit handschriftlichen Notizen, bevor ich mich an den Computer setze, der Korrekturen, Umstellungen und Ergänzungen leicht ermöglicht.
Und wenns dann stimmt?
Fuchs: Dann ist das ein ganz tolles Gefühl, ein Glücksgefühl, eine Erfüllung.
Wer den Börsenbericht liest, weiss, wie viel Geld er verloren hat. Was hat der Leser vom Lesen von Gedichten?
Fuchs (lacht): Wahnsinnig viel, aber nicht im materiellen Sinne! Der Mehrwert geht über das Materielle, eine oberflächliche Befriedigung, hinaus. Poesie betrifft den ganzen Menschen. Sie kann erhellen, beglücken, anregen, besänftigen, Wege aufzeigen, Grenzen überbrücken, sie kann auch in gutem Sinne verunsichern, ja sogar jünger machen (wenn auch nur im Geiste). Im Gedicht kann die ganze Welt aufscheinen. Andere Menschen finden diesen Gewinn vielleicht beim Klettern oder Biken. Ein Gedicht muss übrigens nicht immer schön sein; es gibt auch bitterböse, harte Gedichte, die den Blick weiten können.
Was halten Sie von politischer Lyrik?
Fuchs: Agitprop? Da ist das Gedicht, meine ich, nicht das richtige Medium. Solche Botschaften gehören eher auf Spruchbänder. Zumindest dann, wenn sie auf irgendwelche politischen Ideologien oder Tagesaktualitäten abzielen. Engagiert und kritisch in allen Belangen, sei es Umwelt, Gesellschaft oder Kultur, darf Lyrik hingegen, nein, muss sie sogar sein.
Was leistet der Lyriker für die Welt?
Fuchs: Er (oder sie) ist völlig überflüssig wie jeder Künstler, aber trotzdem ungemein wichtig als Gegenpart zur realen, materialistischen Welt, wo die Leistung das Mass aller Dinge ist. Um da dagegenzuhalten, braucht es die Lyrik und all die anderen Künste. Der Mehrwert, den Gedichte für die Menschen bedeuten, ist aber ebenso wenig messbar wie der eines Musikstückes oder eines Wolkenhimmels.
Wäre die Welt besser, wenn mehr Gedichte gelesen würden?
Fuchs: Möglich. Vielleicht liesse sich eine Sensibilität erreichen, die unserer Welt guttäte.
Woran orientiert sich die Lyrikerin Brigitte Fuchs?
Fuchs: Lyriker, wie ich sie verstehe, sind nicht abgehobene Geschöpfe. Robert Walser schrieb: „Ich halte Genauigkeit für poetisch.“ Für mich gehören diese Genauigkeit des Denkens und das genaue Hinsehen wesentlich zum Handwerk des Schreibens.