Adventskalenderfenster XXIII

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23

 

Der Abend kommt von weit gegangen

Der Abend kommt von weit gegangen
durch den verschneiten, leisen Tann.
Dann presst er seine Winterwangen
an alle Fenster lauschend an.

Und stille wird ein jedes Haus:
die Alten in den Sesseln sinnen,
die Mütter sind wie Königinnen,
die Kinder wollen nicht beginnen
mit ihrem Spiel. Die Mägde spinnen
nicht mehr. Der Abend horcht nach innen,
und innen horchen sie hinaus.

 

Rainer Maria Rilke (1875-1926) österreichischer Lyriker
Aus der Sammlung „Gaben an verschiedene Freunde“

 

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Adventskalenderfenster XXII

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22

 

In der Adventszeit

In unsre gute Stube schauen drei Sterne ein,
Sind gar sicher die Lämpchen dreier Engelein,
Schauen, ob auch Platz und Raum
Für den Weihnachtsbaum.

Drinnen im Ofen, da knisterts fein,
Sicher schickt Niklas einen Windbub hinein,
Der nun lauschen, lauschen will,
Ob wir artig und still.

Horch, die Abendglocken… Nun gehts Christkindlein,
Niemand siehts, am Himmel und schaut in die Fenster ein.
Stille, stille sein!
Das Christkindlein —

 

Alfred Hein (1894-1945) deutscher Schriftsteller

 

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Adventskalenderfenster XXI

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21

 

Die Gelegenheit, Gutes zu tun, stimmt selten so fromm wie Glockengeläute, Weihrauch und bunte Fensterscheiben.

 

 

Emanuel Wertheimer (1846-1916) deutsch-österreichischer Philosoph und Aphoristiker ungarischer Herkunft

 

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Adventskalenderfenster XX

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20

Das macht das Fenster, dass wir «draussen» sagen –
und weil wir selber drinnen sind.
Nach draussen muss man schauernd fragen,
denn draussen ist der Wind.

Laternen stehn
schon hundert schwarze Nächte –
und abends, bald nach zehn,
wenn mancher schlafen möchte,
graut wohl die Strasse blass
und schweigend aus der Flut
von Seufzern, Stein und Glas.

Nun ist es unser Blut,
das so gewaltig rauscht –
da hält der Wind im Tanz den Schritt,
bleibt manchmal stehn,
als ob er lauscht.
Und die Laternen gehen
noch lange durch die Träume mit.

 

Wolfgang Borchert (1921-1947) deutscher Schriftsteller
Gedicht mit dem Titel „Draussen“

 

 

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Adventskalenderfenster IXX

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19

 

Wer von innen durch ein offenes Fenster blickt, sieht niemals so viel wie derjenige, der ein geschlossenes Fenster betrachtet. Nichts ist tiefer, geheimnisvoller, reicher, dunkler, strahlender, als ein Fenster von einer Kerze beschienen. Was man an der Sonne sehen kann, ist immer weniger interessant, als was hinter einer solchen Glasscheibe geschieht; in dieser schwarzen oder leuchtenden Öffnung lebt das Leben, träumt das Leben, leidet das Leben.

(…)

 

Charles Baudelaire (1821-1867) französischer Schriftsteller und Lyriker
Anfangszeilen aus seinem Text „Die Fenster“

 

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Adventskalenderfenster XVIII

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18

 

Du siehst nicht wirklich in die Welt, wenn du nur durch dein eigenes Fenster siehst.

 

 

Weisheit aus der Ukraine

 

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Adventskalenderfenster XVII

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17

 

Sie sitzt und schaut am Spiegel
Nur nach dem Mondenlicht,
Das rieselnd durch die Riegel
Des Faservorhangs bricht.

Als wie von Jadesplittern
Fliesst durch der Kammer Raum
Ein Glitzern und ein Zittern,
Und sie zieht, wie im Traum,

Anstatt ihr Haar zu kämmen,
Den Vorhang hoch empor,
Und Strahlen überschwemmen
Der Kammer offnes Tor.

Wie jetzt die Silberscheibe
Weiss leuchtend strahlt und blinkt;
Gleich einem Frauenleibe,
Von dem die Seide sinkt.

 

 

Tschan-Jo-Su (lebte im 19. Jahrhundert) Chinesischer Dichter

 

 

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Adventskalenderfenster XVI

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16

 

Ich lehn‘ am Fenster, trüb‘ und still,
Hab‘ Vieles überdacht,
Die Dämm’rung schwand mir unbemerkt,
Es naht sich schon die Nacht.
Die Häusermassen liegen da,
Von Nebel grau umwebt,
Als wären sie verlassen all‘
Und gänzlich unbelebt.

Doch sieh! da blitzet fern ein Licht
Und wieder eins empor,
Bald glänzt aus allen Fenstern fast
Der helle Schein hervor.
Da weilen rings die Menschen nun
In Freude oder Schmerz,
Da regt sich manche fleiss’ge Hand,
Manch ungestümes Herz.

(…)

 

Auguste Kurs (1815-1892) deutsche Lyrikerin und Schriftstellerin
Zwei von vier Strophen ihres Gedichtes „Am Fenster“

 

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Adventskalenderfenster XV

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15

 

Am Fenster steh ich. — Eine Ecke des Himmels,
Mattblau wie Seide,
Mit zarten, weissen, glänzenden Flocken
Hebt sich wie ein Baldachin
Über das Dunkel waldiger Berge.

Und wie von verborgenem Lichte
Breitet sich strahlende Helle,
Glänzig werden die Flocken,
Wie frischer Eierschaum,
Wie schillernde Opale.

Und ich ahne, die Sonne kommt,
Und schaue,
Bis mich ein Strahl trifft,
Ein siegender, leuchtender, warmer Strahl
Ich schaue und schaue …

Fern, weit fern
Fliegt unter dem Himmel ein Rabe,
Und mir ist,
Als hör ich sein höhnendes Krächzen.
Aber ich schaue und schaue
Und wart auf die Sonne. – –

Die schaumigen Flocken fliegen zusammen,
Es ballt sich ein grauer Haufen,
Und der graue Haufen
Verschüttet die blaue Seide …
Und —
Ich schaue und schaue
Und wart auf die Sonne …

 

 

Wilhelm Holzamer (1871-1907) deutscher Schriftsteller und Literaturrezensent
Gedicht mit dem Titel „Dezembermorgen“

 

 

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Adventskalenderfenster XIV

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14

 

Rotes Auge glutet durch die Nacht:
Einsam Fenster, wo ein Mensch noch wacht.
Durch die dunkeln Eichen seh ichs glühen,
Welche Seele mag sich da noch mühen?

(…)

Schlummert alle, böse oder gut,
Wiege einmal, sanfte Friedensflut,
Alle armen, müden Menschenseelen,
Die sich wund im Kampf des Lebens quälen.

Jäh erlischt das rote Auge dort,
In den Eichen rauscht der Nachtwind fort,
Zwischen ihren schwanken, schwarzen Zweigen
Seh ich freundlich stille Sterne steigen.

 

 

Gustav Falke (1853-1916) deutscher Schriftsteller
1., 4. und 5. Strophe des fünfstrophigen Gedichtes „Das Fenster“ aus der Sammlung „Frohe Fracht“

 

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