Die Zeit geht nicht

Foto Brigitte Fuchs

 

Die Zeit geht nicht, sie stehet still,
Wir ziehen durch sie hin;
Sie ist ein Karavanserei,
Wir sind die Pilger drin.

Ein Etwas, form- und farbenlos,
Das nur Gestalt gewinnt,
Wo ihr drin auf und nieder taucht,
Bis wieder ihr zerrinnt.

Es blitzt ein Tropfen Morgentau
Im Strahl des Sonnenlichts;
Ein Tag kann eine Perle sein
Und ein Jahrhundert nichts.

Es ist ein weisses Pergament
Die Zeit, und jeder schreibt
Mit seinem roten Blut darauf,
Bis ihn der Strom vertreibt.

An dich, du wunderbare Welt,
Du Schönheit ohne End‘,
Auch ich schreib‘ meinen Liebesbrief
Auf dieses Pergament.

Froh bin ich, dass ich aufgeblüht
In deinem runden Kranz;
Zum Dank trüb‘ ich die Quelle nicht
Und lobe deinen Glanz.

 

Gottfried Keller (1819-1890) Schweizer Schriftsteller, Dichter und Politiker

 

Foto Brigitte Fuchs

 

 

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15 Antworten auf Die Zeit geht nicht

  1. Eva sagt:

    Was für eine lebenskluge Auffassung von der Zeit, sie gefällt mir sehr und macht ordentlich nachdenklich.

    Liebe Grüße von Eva

    • quersatzein sagt:

      Auch ich finde dieses Gedicht, von dem meistens nur die dritte Strophe zitiert wird und die dadurch bekannt ist, sehr ansprechend.
      Ja, das setzt vieles in Relation zum Ganzen.

      Einen lieben Dank und Gruss zu dir, Eva.

  2. merlin sagt:

    eine positive und demütige sicht auf die welt hat hier g.keller.
    die erste strophe des gedichts könnte auch von rilke sein.
    über das phänomen zeit lässt sich immer wieder philosophieren.
    einen stimmigen tag dir und glg.

  3. quersatzein sagt:

    So ist es, Merlin.
    Ja, die Zeit lehrt uns Demut. (Das wird einem wieder deutlich bewusst an einem Tag wie heute, wo wir gegen Mittag zur Beerdigung eines langjährigen Freundes fahren.)
    Hab Dank und carpe diem!

  4. andrea sagt:

    die beiden spaziergänger auf der kuppe, die grün durchbrochene schneewiese … das ist ein wunderbares bild!

    … und dieses gedicht von keller, er ist mein lieblingsdichter des poetischen realismus, die gedanken/überlegungen, die diesem gedicht zugrunde liegen finde ich auch sehr anregend. sprachlich gefallen mir seine novellen besser.

    hab vielen dank für die erinnerung an diesen dichter! liebe grüße, andrea

  5. Zitante Christa sagt:

    Die Zeit, sie bleibt.

    Mein erster Gedanke der mir zu diesem Gedicht von Gottfried Keller, von dem ich auch nur die dritte Strophe kannte, einfiel.

    Sie ist so unaufhaltsam in ihrem Werdegang, wie z.B. Sonnen- und Monduntergang. Gott behüte den Menschen davor, darauf jemals Einfluß nehmen zu können…

    Bestimmt werden Dich, liebe Brigitte, diese Zeilen bei dem Trauergang heute begleiten.

    Mitfühlende Grüße,
    Christa

  6. quersatzein sagt:

    Das werden sie, danke, Christa.
    Und auch ein Merci für die Gedanken zur Zeit, die ich mit dir teile und unterstreichen möchte.
    Einen lieben Heutegruss zu dir.

  7. Hausfrau Hanna sagt:

    Die erste und die dritte Strophe,
    liebe Frau Quersatzein,
    sind mir in Erinnerung geblieben, die anderen Strophen hingegen nicht.
    Ihr Beitrag und das mehrmalige Lesen hat es soeben ‚ganz‘ gemacht!
    Mit einem lieben Gruss in den leisen, ruhigen Regenmorgen
    Hausfrau Hanna

  8. quersatzein sagt:

    Danke, liebe Hausfrau Hanna. (Ich hatte sogar nur die dritte Strophe im Kopf.) Ebenfalls liebe Grüsse durch den Regen.

  9. mona lisa sagt:

    Pilger durch die Zeit …
    Das Bild gefällt mir, werde dem heute mal nachspüren, in aller Ruhe.
    Herzliche Grüße, komm gut durch diesen Tag.

  10. Sylvia sagt:

    ah, welch ein blatt, welch ein foto!
    groß! es macht frösteln und gleichzeitig
    warm ums herze.
    lieber gruß
    Sylvia

  11. quersatzein sagt:

    Das freut mich, Sylvia.
    Einen lieben Abendgruss zu dir.

  12. Sonja sagt:

    Wie traurig, einen langjährigen Freund beerdigen zu müssen und so etwas häuft sich im späteren Alter!
    Was merlin sagt, das mit dem Philosophieren über das Thema Zeit, wollte ich auch anmerken!
    Abendgruss von Sonja

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