Die Weidenkätzchen

 

Kätzchen, ihr, der Weide,
wie aus grauer Seide,
wie aus grauem Samt!
O ihr Silberkätzchen,
sagt mir doch, ihr Schätzchen,
sagt, woher ihr stammt.

„Wollen’s gern dir sagen:
Wir sind ausgeschlagen
aus dem Weidenbaum;
haben winterüber
drin geschlafen, Lieber,
in tieftiefem Traum.“

 

 

In dem dürren Baume
in tieftiefem Traume
habt geschlafen ihr?
In dem Holz, dem harten,
war, ihr weichen, zarten,
euer Nachtquartier?

„Musst dich recht besinnen:
Was da träumte drinnen,
waren wir noch nicht,
wie wir jetzt im Kleide
blühn von Samt und Seide
hell im Sonnenlicht.

 

 

Nur als wie Gedanken
lagen wir im schlanken
grauen Baumgeäst;
unsichtbare Geister,
die der Weltbaumeister
dort verweilen lässt.“

Kätzchen, ihr, der Weide,
wie aus grauer Seide,
wie aus grauem Samt!
O ihr Silberkätzchen,
ja, nun weiss, ihr Schätzchen,
ich, woher ihr stammt!

Christian Morgenstern (1871-1914) deutscher Dichter

 

Alle Fotos Brigitte Fuchs

 

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3 Antworten auf Die Weidenkätzchen

  1. merlin sagt:

    eine tolle ode an den vorfrühling 🙂
    morgenstern scheint ein inniges verhältnis zu diesen pflanzen gepflegt zu haben.
    hier ist es noch nicht soweit mit dem austreiben…
    morgengrüsse durch den nebel 🙂

  2. Valentina sagt:

    Wie lieblich ist dieses Gedicht!
    Ich hätte eine Frau als Dichterin vermutet.
    Eine Metapher, dass aus blossen Gedanken Wunderprächtiges geboren werden kann?
    Einen guten Wochenanfang und herzlichen Gruss mit der Hoffnung, dass es dir wieder besser geht, liebe Brigitte.

  3. Dolores Werner sagt:

    So wunderbar illustriert. Herrn Goethe hätte das sehr gefallen!
    Mit auch!
    Herzliche Grüße
    Dolores

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